Inhalt express 11/2006

Gewerkschaften Inland

Heinz Steinert: »Prekariat, Kaloriat, sexy Berlin und die Unterschicht«    S. 1

Anne Allex: »Zwangsemanzipation«, Frauenarmut trotz Frauenarbeit       S. 8

Peter Grottian/Karl-Heinz Selm: »Bundessozialgericht legitimiert den Armutssturz«         S. 9

»Rechtsstaat – auch für Arme!«, Unterschriftensammlung gegen geplante Sozialgerichtsgebühren         S. 10

»Keine Ausrede mehr: Schlechtes Wetter«, Malern und Lackierern droht Hartz IV            S. 11

 

Betriebsspiegel

»Hurra VW-Deutschland«, unvorhersehbares Pech für Brüssel, aber nieder mit Osteuropa          S. 4

KH: »Bosch Siemens Hausgeräte«, ein voller Erfolg?    S. 4

Willi Hajek: »Blauer Himmel über Berlin?«, über das Fazit der Streikenden bei Bosch Siemens Hausgeräte         S. 5

»Social movement unionism – von außen«, EU-Arbeitsgruppe von attac zu VW S. 6

KH: »Stellt euch vor, wir werden verkauft, und keiner will mit«, Montagsdemos und Blockaden: Bayer-Beschäftigte begehren auf    S. 6

»Post für Herrn Huber«, IGM-Vorstand will sich mit Ausschlussverfahren und Funktionsverboten befassen         S. 16

 

Europa/Internationales

Annette Groth: »Berlin in Brüssel«, zur deutschen Ratspräsidentschaft der EU   S. 2

»Gelinde gesagt: distanziert«, EBR-Reform und grenzüberschreitender Newsletter         S. 6

Thorsten Schulten: »Gesetzliche und tarifvertragliche Mindestlöhne in Europa«, ein internationaler Überblick, Teil II            S. 11

Alix Arnold: »Betriebsbesetzungen in der Krise«, zur Situation selbstverwalteter Fabriken in Argentinien  S. 13

Alix Arnold: »Linksradikale Basis!?«, Zanon als Speerspitze der Selbstverwaltung         S. 13

»Tarnkappen lüften«, Weed untersucht Wertschöpfungsketten am Beispiel der Computer-Produktion     S. 14

Sarah Bormann: »Die Materialität des Cyberspace«, die lange Reise eines PCs und die Implikationen für Arbeit, Umwelt und Entwicklung           S. 15

 

Editorial

Tüte zeigen – Lidl kicken

Weihnachtszeit ist vor allem dies: Schnäppchenjagd und Stress. Konsumieren, bis der Dispo nichts mehr hergibt, Schaffen, bis man umfällt – und zwar für große Teile der Bevölkerung beides zugleich.

Ethische Appelle an »bewusstes Einkaufen« stehen da vor einem Problem: Seit Jahren rückläufige Lohnquoten, eine Verteilungsbilanz, die das Schlusslicht in Europa bildet, Reallohnverluste für die Mehrheit der Beschäftigten und all die anderen Umstände, die z.B. im Armutsbericht der Bundesregierung nachzulesen sind, machen es gerade für diejenigen schwer, die keinen Euro zu viel haben, um diesen für sozial und ökologisch »korrekte« Produkte auszugeben. Das sind – von den berüchtigten Mittelklasse-Einkaufsathleten, die auf den Schnäppchen-Bordeaux bei Aldi lauern, abgesehen – meist auch diejenigen, die ihren »Warenkorb« mit Discounter-Produkten füllen und die – »Dank« Föderalismus-Reform und verlängerter Ladenschlusszeiten – nun auch zeitlich definitiv keine Chance mehr hätten für den Einkauf beim Fachhändler ihres Vertrauens, sollten sie diesen jemals aufgesucht haben. Am Ende der Produktionskette, d.h. bei diesen Verbrauchern anzusetzen hieße hier: Verantwortung von denen einzufordern, die sie am wenigsten haben, geschweige denn praktizieren können in der langen Kette der Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse.

Doch wo dann ansetzen in einem Unternehmen, in dem die Beschäftigten selbst noch nicht einmal als Beschäftigte das gesetzlich garantierte Minimum an Einfluss haben? Nur in acht von knapp 2700 Filialen in Deutschland existiert nach Darstellung von ver.di ein Betriebsrat, rund 40000 Beschäftigte arbeiten ohne jegliche Form von Interessenvertretung. (Vgl. http://lidl.verdi.de/hintergrund) Zwei aktive Betriebsratsgremien, in Calw und in Forchheim, wurden durch Ausgliederung, Schließung und Kündigung zerschlagen, weil sich die Belegschaften an Warnstreiks beteiligt hatten. Der Versuch einer Neugründung in München endete mit der fristlosen Kündigung der Initiatorin – trotz Unterstützung der Beschäftigten durch das eigens zu diesem Zweck gebildete Netz prominenter Paten. (S. express, Nr. 11-12/2005)

Nach Veröffentlichung der beiden »Schwarzbücher«, in denen die MitarbeiterInnen der Lidl-Kampagne aus Tausenden von Berichten und Zuschriften von Beschäftigten eine beeindruckende Dokumentation der systematischen Verstöße gegen Menschen- und Arbeitsrechte durch den Schwarz-Konzern zusammen gestellt haben, ist zwar das öffentliche Interesse an den Praktiken des Konzerns geweckt und dessen Ansehen stark ramponiert. Dazu hat übrigens auch die Kritik von Organisationen wie Greenpeace, die dem Unternehmen attestierten, die »am meisten vergifteten Lebensmittel« im deutschen Einzelhandel zu verkaufen, oder von attac wegen der sozialen und ökologischen Bedingungen bei Zulieferern und ProduzentInnen aus dem Agrarbereich und der Nahrungsmittelindustrie (»Lidl ist nicht zu billigen«) beigetragen. Und daran haben auch die Verträge, die der Konzern mit »Fair Trade«, der Siegel-Organisation für Produkte aus »fairem Handel«, der u.a. die Ebert-Stiftung, die Böll-Stiftung, das DGB-Bildungswerk, Brot für die Welt und Misereor angehören, nichts ändern können. Dass es sich hier um eine Alibi-Aktion handelt, mit der das Cheapness-Image des Konzerns aufpoliert werden soll, ist schon an der geringen Zahl von 8 (!) Produkten, die sich seit Juni 2006 im 1200 Produkte umfassenden Sortiment des Discounters befinden, ersichtlich. Einmal ganz abgesehen davon, dass durch Verkauf von Produkten mit diesem Siegel zwar die ProduzentInnen am Anfang der Kette gefördert werden, jedoch keine Aussage über die Bedingungen im weiteren Verlauf der Produktionskette, so auch bei den Discountern gemacht wird.

Wenn die Lidl-Kampagne bei ver.di nichtsdestotrotz »bewusstes Einkaufen« fordert, so verfolgt sie damit ein anderes, universelles Ziel: »Menschenwürde im Job«. Denn allen Weichspüler-Marketing-Strategien des Konzerns zum Trotz ist es nach wie vor so: Die »Krawattenträger« (O-Ton einer Kassiererin) haben noch immer dafür zu sorgen, dass mit einem minimalen Stundeneinsatz maximale Umsätze eingefahren werden. Die VerkäuferInnen hetzen sich nach wie vor ab, um mindestens 40 Warenscans pro Minute zu schaffen und die »2+1-Regel« einzuhalten: Wenn sich ein dritter Kunde anstellt, muss eine neue Kasse besetzt werden. Kann dies nicht eingehalten werden, was sehr oft der Fall ist, drohen arbeitsrechtliche Konsequenzen. Pausen- und Arbeitszeiten fallen immer noch unter den Tisch. Gegen Betriebsräte sträubt sich der Konzern weiterhin, u.a. will er eine »gemeinsame Vereinbarung«, in der lediglich an die ILO-Konventionen angelehnte Rechte formuliert werden, nicht unterschreiben.

Vielleicht wäre es doch hilfreich, dem Konzern ›die Tüte zu zeigen‹ und mit den Beschäftigten gemeinsame Sache zu machen, nicht nur beim Einkaufen! Wir dokumentieren im express eine Auswahl von Einsendungen aus dem Gestaltungswettbewerb »Die hohen Kosten der niedrigen Preise«, die ver.di leider noch nicht auf Tüte gebracht hat. Allerdings kann man die Motive als Postkartenset erstehen oder gleich eine CD mit allen Einsendungen bei ver.di bestellen, z.B. für den Einsatz bei Lesungen aus dem Schwarzbuch mit Beschäftigten und AutorInnen der »Schwarzbücher«, Ausstellungen, Bildungsveranstaltungen, gemeinsamem weihnachtlichen Erkundungs- und Begegnungs-Shopping in Lidl-Filialen – Enrichez vous! Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Bestellt und kopiert, was das Zeug hält!

Eure express-Redaktion

express_2006-11_S.1-8

express_2006-11_S.9-16