Warten auf den Aufstand der Hungernden – Zum Stand der Proteste im Irak

Interview mit den Workers Against Sectarianism von Lilli Helmbold* und Hans Stephan*

Über ein Jahr ist es her, dass im Irak landesweit Proteste ausbrachen, die sich gegen das konfessionalistische System wandten und für eine Säkularisierung und bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse einstanden. Den Demonstrationen folgten rasch Platzbesetzungen in den größeren Städten des Landes, wie Bagdad, al-Nasiriya und al-Basra. Zur unmittelbaren Folge hatte dieses Aufbegehren der irakischen Bevölkerung den Rücktritt des Premierministers Adil Abd al-Mahdi, dessen Amt erst im Mai 2020 mit Mustafa Al-Kadhimi wieder besetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt sah sich der Irak bereits mit einer sich unter der Corona-Pandemie zuspitzenden Krise konfrontiert, die den Ölsektor als wichtigsten Pfeiler der irakischen Ökonomie empfindlich traf und weiter anhält. Für die proletarisierte Bevölkerung bedeutet die Pandemie und die staatlichen Gegenmaßnahmen eine nochmalige Verschärfung ihrer ohnehin prekären Lebensverhältnisse: Für diejenigen, die von der Hand in den Mund leben, heißt es, sich zwischen dem Hungern zu Hause oder der Infektionsgefahr am Arbeitsplatz entscheiden zu müssen; für die Frauen bedeutete die Ausgangssperre, sich der patriarchalen Gewalt daheim kaum noch entziehen zu können; für die Platzbesetzer:innen wurde es schließlich immer schwieriger, sich politisch und öffentlich in ihrem Protest zusammen zu tun und für ihre Forderungen zu streiten. Die Bedrohung durch die Pandemie rückt angesichts der permanenten staatlichen Repression und Gewalt der Milizen in den Hintergrund, von denen die Platzbesetzer:innen und Protestierenden seit Beginn des Oktoberaufstandes 2019 betroffen sind. So kam es erneut seit Juli 2020 zu brutalen Attacken auf die besetzten Plätze durch Milizen, denen sich in den folgenden Wochen gezielte Erschießungen bekannter Aktivist:innen anschlossen. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht: Mitte Februar dieses Jahres kam es wieder zu einer Welle gezielter Hinrichtungen, Kidnappings und Folter von Aktivist:innen des Oktoberaufstandes durch Milizen.

Am 25. Oktober 2020 fand der Jahrestag des Oktoberaufstandes im Irak statt, an dem sich landesweit Protestierende für ihre Forderungen nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen Verhör zu schaffen versuchten. Zu diesem Anlass sprachen wir damals mit Sami Adnan über den Stand der Proteste, über die Auswirkungen der erfahrenen Gewalt auf die Möglichkeit, sich politisch zu organisieren, über die ökonomische Entwicklung und die Versuche des neuen Premierministers al-Kadhimi, die Proteste einzuhegen.

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Sami ist Mitglied der Workers Against Sectarianism (WAS), die seit Oktober 2019 auf dem al-Tahrir-Platz in Bagdad an den Platzbesetzungen teilnahmen und seither international auf die Protestbewegung im Irak aufmerksam machen. Auf facebook, ihrer homepage, twitter sowie seinem Telegramm-Kanal berichten sie laufend über die Proteste. Weitere Interviews mit den WAS findet ihr hier:

»Das konfessionelle System und die Milizen schaden unserer Klasse« in analyse und kritik

Revolutionäres Terrain Bewegungen und Besetzungen für eine säkulare Demokratie im Irak – ein Gespräch in express 3/2019

Interview: “Für viele Frauen im Irak ist die Quarantäne schon lange Lebensrealität” auf Solidarisch gegen Corona

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