Re-Visited: Vom Begehren nach einer anderen Freiheit getragen

Dokumentation der Jubiläumskonferenz des express am 8. Oktober 2022

Vor 60 Jahren haben wir begonnen. Wir haben uns durch die Zeit geschlagen. Mit Auf­brüchen, Ölkrisen und Massenentlassungen, Ausschlussverfahren und Radikalenerlassen. Wir haben renitente Kämpfe inner- und außerhalb der Betriebe angestachelt, sichtbar gemacht oder in Erinnerung gerufen. Haben mit internationalistischer Brille die Piefigkeit der Bonner Republik verlacht und gegen Verzichtslogik genauso angeschrieben wie gegen das nationale Kohlsche Einheitsgebrabbel. Wir haben fortwährend nach Spuren des Aufbruchs im Kleinen gesucht, an der Werkbank, im kollektiven Prozess und der rebellischen Behauptung der eige­nen Würde und Handlungsmacht gegen Chefs und Leistungsideologie.

Wir haben uns eingemischt und rumgestritten, Haltung bewahrt und fortwährend für orga­nisierende Dynamik von unten plädiert. Und: Wir sind trotz der Widrigkeiten so mancher Zeit nicht verrückt geworden. Wir sind noch da.

Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten beiden Jahrzehnten Debatten über Organizing als Versuch der (Re-)Dynamisierung der Routinen so oft in unserem Heftchen wiedergefunden haben. Gleichwohl nehmen wir vieles von dem, was heute als Organizing etikettiert wird, vor allem als methodisches Werkzeug und nicht als strategisch und inhaltlich bestimmte politische Vorgehensweise wahr. Warum auch sollte sich hier der Zeitgeist nicht ebenso einschreiben wie an anderer Stelle?

Genau deswegen bietet ein Jubiläum sich dafür an, gemeinsam zurückzuschauen, um nach vorne zu blicken. Wir haben uns gefragt, was frühere Erfahrungen und Experimente in und um Organizing aus den 1970ern und 1980ern heutigen Praxen zu sagen haben – und anders­rum. Welche Fragen sich weiterentwickelt haben und wo Dinge verloren gegangen sind.

Mit Euch und zahlreichen Referent:innen aus Gewerkschaften, der Sozialen Arbeit, aus Hochschulen, Stiftungen und Sozialen Bewegungen, haben wir einen nach vorn ge­richteten Generationendialog geschafft, den wir an dieser Stelle in Gänze dokumentieren.

Einführung

Begrüßung und Einführung durch die Redaktion

Florian Wilde: Geschichte des Organizing in Deutschland

Seit fast 20 Jahren sammeln deutsche Gewerkschaften Erfahrungen mit aus den USA übernommenen Organizing-Ansätzen, die sich zunehmend auch in der gewerkschaftlichen Regelarbeit wiederfinden. Florian Wilde gibt einen Überblick über die Geschichte des Organizing in Deutschland, ausgehend vom ersten Projekt im Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe 2006, in dem er damals mitarbeitete, über den anschließenden Hype ums Organizing und die folgende Ernüchterung unter linken Gewerkschafter:innen, bis hin zur einer zweiten, von Jane McAlevey inspirierten Organizing-Welle der letzten Jahre. Dabei versucht er, die von der amerikanischen SEIU-Gewerkschaft mitgeprägten frühen Organizing-Ansätze als real eher Mobilizing-orientiert kritisch zu reflektieren, zugleich aber die emanzipatorischen Potentiale des Organizing aus einer linken Perspektive zu verteidigen und in die Bemühungen um eine Stärkung und Erneuerung der Gewerkschaften einzubetten.
Dr. Florian Wilde arbeitet als Referent für aktivierende und internationale Gewerkschaftspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist u.a. (Mit-)Herausgeber von »Politische Streiks im Europa der Krise« (Hamburg 2012) sowie der Jane McAlevey-Bücher »Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing« (Hamburg 2019) und »Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie« (Hamburg, 2021) und betreibt den Textarchiv-Blog https://wildetexte.florianwilde.org.

Slave Cubela: Anger – Hope – Action

Slave Cubela arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt als Organizer bei einer großén deutschen Gewerkschaft und übt sich privat gerne als Publizist. In seinem Input lotet Cubela aus, inwiefern Organizing tatsächlich eine gewerkschaftliche Erneuerung bewirken kann. Seine Zweifel begründet er nicht nur mit Blick auf die USA, wo die Gewerkschaften trotz Organizing-Praxis und punktueller Erfolge nach wie vor in der Defensive sind. Auch die Beharrungskräfte innerhalb der deutschen Gewerkschaften, also ihr Festhalten an traditionellen Politikmustern und vor allem an der Stellvertreter-Logik, sind nach Cubela Grenzen, die Organizing nicht ohne Weiteres überwinden wird.

Yanira Wolf: Haltung bewahren – Renitent bleiben im Organizing

In ihrem Beitrag stellt Yanira Wolf Verbindungen zwischen der Organizing Praxis und feministischen Auseinandersetzungen her. So beschreibt sie z. B. das der Fokus auf Beziehungsaufbau, die enge Unterstützung bei persönlichen Emanzipationsprozessen und der kollektive Umgang mit Schwierigkeiten und Scheitern wesentliche Fürsorgearbeit darstellt, die in der Organizing Methode angelegt sind. Gleichzeitig fragt sie, ob dies in der gegenwärtigen gewerkschaftlichen Kultur tatsächlich gelebt werden kann – und was es dafür bräuchte.

Michael May: Organizing und Soziale Arbeit

Michael May referiert zum einen über die intersektionalitätssensible Weiterentwicklung des Organizing-Konzeptes zu einer übergreifenden Politik des Sozialen, zum anderen darüber, im Organizing-Prozess auch einen Raum zu eröffnen, dass subalterne Gruppen eine eigene Stimme entwickeln.
Michael May ist Professor für Theorie und Methoden Sozialer Arbeit unter besonderer Berücksichtigung der Gemeinwesenarbeit an der Hochschule RheinMain und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Widersprüche – Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.

Organizing in der Diskussion

Offene Debatte über die Inputs auf der Tagung des express mit zahlreichen Kommentaren ehemaliger und aktiver Redakteur:innen des express und Mitglieder des Sozialistischen Büros.

Abschlussbetrachtung

express-Redakteur Jakob Stengel fasst die Diskussion der Tagung zusammen und gibt einen Ausblick auf anstehende Aufgaben.

Die Dokumentation der Tagung „Vom Begehren nach einer anderen Freiheit getragen“ wurde mit Mitteln der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt realisiert.